AHK Polen: Das Jahr 2025 war außergewöhnlich intensiv, was internationale Ereignisse betrifft, was es zu einem guten Zeitpunkt macht, Bilanz zu ziehen und auf das Jahr 2026 zu blicken. Welche Ereignisse oder Prozesse hatten Ihrer Meinung nach den größten Einfluss auf die deutsch-polnischen Beziehungen im vergangenen Jahr?
Janusz Reiter: Der Krieg in der Ukraine ist selbstverständlich kein „Ereignis“. Er dauert inzwischen fast vier Jahre an und ist zu einem festen Bestandteil unserer neuen Realität geworden ihr dominierendster Teil. So war es auch im zu Ende gehenden Jahr. Polen und Deutschland sind sich in der Einschätzung der russischen Aggression einig und entschlossen, die Ukraine zu unterstützen, auch deshalb, weil es in diesem Krieg um die Zukunft der europäischen Sicherheit geht. Diese Übereinstimmung ist umso bedeutender, als sie historisch betrachtet keineswegs selbstverständlich ist. Es ist ein trauriges Paradox, dass wir gemeinsame Ansichten und gemeinsame Interessen haben, aber kein Gefühl der Gemeinschaft. In der Politik sind Realität und Wahrnehmung nicht immer identisch, doch in diesem Fall klafft zwischen ihnen eine tiefe Kluft. Das hat erhebliche Konsequenzen. Die politische Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland liegt deutlich unter ihrem Potenzial. Ich hoffe, dass es im kommenden Jahr gelingt, dies zu ändern.
AHK Polen: Das neueste Deutsch-Polnische Barometer weist auf einen Rückgang der Sympathie der Polen für die Deutschen hin, obwohl sich die Wirtschaftsbeziehungen deutlich intensivieren. Polen festigt seine Position als viertgrößter Absatzmarkt Deutschlands. Woher kommt diese Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Stimmung und der Dynamik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit?
JR: Auch in der Wirtschaft gibt es eine Diskrepanz zwischen Realität und Wahrnehmung, allerdings auf andere Weise. Die Zusammenarbeit blüht trotz emotionaler Distanz. Das Misstrauen gegenüber Deutschland hindert die Polen offenbar nicht daran, mit Deutschland Handel zu treiben und Geschäfte zu machen. Die Deutschen, denen wir misstrauen, sind abstrakt. Die Deutschen, mit denen wir zusammenarbeiten, sind real. Wirtschaftliche Beziehungen sind nützlich und wichtig, doch die Welt der Emotionen folgt ihren eigenen Gesetzen. Die Vertrauenskrise zwischen Polen und Deutschland ist gefährlich und darf nicht einfach hingenommen werden, indem man Trost in wirtschaftlichen Statistiken sucht. Vielleicht sollten jedoch auch die Wirtschaftseliten beider Laender darüber nachdenken, wie sich die Vertrauenslücke zwischen Polen und Deutschland überwinden lässt.
AHK Polen: Wie beurteilen Sie, Herr Botschafter, die tatsächliche Wirksamkeit der deutsch-polnischen Regierungskonsultationen vom 1. Dezember? Können wir im Jahr 2026 mit einem Übergang von Erklärungen zu konkreten Maßnahmen rechnen, und hat das Thema Reparationen wichtige Kooperationsbereiche wie Verteidigung oder Digitalisierung nicht überschattet?
JR: Die deutsch-polnischen Regierungskonsultationen waren, wie es scheint, besser, als es die Medienberichterstattung vermuten ließ. Man könnte sagen: besser so als umgekehrt. Dennoch gibt es keinen Grund, einen Erfolg zu feiern. Erstens ist es beiden Regierungen nicht gelungen, die Stimmung zu verändern. In Polen herrscht Kühle, in Deutschland sind die Beziehungen zu Polen kein Thema, das große Aufmerksamkeit auf sich zieht. Seit 1989 haben wir kein großes politisches oder wirtschaftliches Projekt geschaffen, das die Vorstellungskraft der Gesellschaften angesprochen hätte. Wir bewegen uns in die richtige Richtung, jedoch in kleinen Schritten. Selbst beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur gibt es keinen Durchbruch. Große – allerdings negative – Emotionen weckt hingegen die Frage der Reparationen. Sie lässt sich nicht lösen. Man kann die Diskussion auf eine andere Ebene verlagern und über einen deutschen Beitrag zur Sicherheit Polens sprechen. Dieser existiert selbstverständlich bereits, doch auch hier handelt es sich wieder um kleine Schritte, wo eigentlich ein Sprung notwendig wäre.
AHK Polen: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Herausforderungen und Chancen für die deutsch-polnischen Beziehungen im Jahr 2026?
JR: Wir wissen nicht, ob das Jahr 2026 einen Durchbruch im Krieg bringen wird. Sicher ist jedoch etwas anderes: Selbst ein Ende des Krieges wird nicht sofort den Beginn eines echten Friedens bedeuten. Der Osten Europas wird unruhig bleiben. Vor Polen und Deutschland werden zwei Herausforderungen stehen. Die erste besteht darin, für unsere Sicherheit zu sorgen, sowohl für die äußere als auch für die zunehmend unter Druck geratene innere Sicherheit. Die zweite Herausforderung ist die gemeinsame Unterstützung beim Wiederaufbau der Ukraine, der eine große wirtschaftliche Chance darstellen wird. Sollte es gelingen, beim Wiederaufbau der Ukraine zusammenzuarbeiten, könnte dies ein echter „Game Changer“ für die deutsch-polnischen Beziehungen sein. Man sollte sich jedoch nichts vormachen: Ohne klare politische Unterstützung wird es keinen Durchbruch geben. Um eine solche Unterstützung könnten und sollten die wirtschaftlichen Akteure beider Länder entschlossener werben. Ihre Stimme ist bislang zu leise. Auch das könnte sich im Jahr 2026 ändern.